Sozialisierung..aber wie
Das ist mal ein sehr guter Artikel über das „sozialisieren“ von Ihrem neuen Familienmitglied. Ich erzähle jedem was er in der Hundeschule und bei den sogenannten „Welpenspielkreisen“ beachten sollte. Dieser Artikel beschreibt es noch einmal sehr schön. Also seien sie aufmerksame Beobachter und konsequente Rudelführer.
Von Ralph Rückert, Tierarzt: Von allen Seiten – auch von uns – wird dem frischgebackenen Hundebesitzer empfohlen, den Kontakt seines Hundes zu anderen Hunden zu fördern, um eine möglichst gute Sozialisation zu erreichen. Nicht zuletzt zu diesem Zweck werden auch gern die Welpengärten der Hundeschulen besucht oder man geht gezielt auf den ortsüblichen „Hundestrichen“ spazieren. Eine gute Sozialisation ist auch nie wirklich abgeschlossen. Man kann sich also nicht auf im Welpenalter erworbenen Lorbeeren ausruhen, sondern sollte dem Hund immer wieder Gelegenheit zur Interaktion mit Artgenossen geben. Nur, wie das im realen Leben oft verläuft, ist das leider grundverkehrt und führt bei einzelnen Hunden zu so gravierenden Traumatisierungen, dass die Besitzer damit dann lebenslang zu kämpfen haben, und zwar ohne auch nur zu ahnen, dass sie sich (und natürlich ihrem Hund) diese Suppe so richtig selbst eingebrockt haben.
Das zentrale Missverständnis ist ein Satz, den ich gar nicht mehr hören kann, ohne dass mir der Kamm schwillt: „Die machen das schon unter sich aus!“. Falsch, falsch und nochmals falsch!!! Wenn wir Hunde „das unter sich ausmachen“ lassen, dann vernachlässigen wir unsere Verpflichtungen gegenüber unserem eigenen Hund, unserem Schutzbefohlenen, auf sträflichste Art und Weise. Es ist ein Bruch der Vereinbarung, die wir mit unserem Hund haben: Er gibt uns buchstäblich alles, was er hat und was er ist. Er will uns immer gefallen und beobachtet uns so genau wie kein anderes Tier, um zu erfahren, was er dafür tun muss. Er legt sein ganzes Leben in unsere Hände, scheinbar bedingungslos, was aber nicht stimmt. Er erwartet dafür von uns in erster Linie Führung, Schutz und Sicherheit.
Die Interaktion auf der Hundewiese kann gefährlich werden, wenn Hundehalter ihre Hunde nicht „lesen“ und im richtigen Moment eingreifen können
Es kann also absolut nicht angehen, dass wir über alles (Ernährung, Schlafplatz, Ausscheidungsverhalten, körperliche Bewegung, etc.) im Leben unseres Hundes bestimmen, uns aber in genau dem Moment raushalten, in dem unser Hund unsere Intervention am dringendsten benötigen würde; denn dadurch kann es sehr gut sein, dass wir ihn mit in den Schoß gelegten Händen entweder zum lebenslangen Opfer oder zum notorischen Täter formen. Eine immer wieder zu beobachtende und hochproblematische Angelegenheit ist das sogenannte Rolling (Umrempeln, Überrollen). Sieht von außen oft gar nicht so dramatisch aus, ist aber ein sehr aggressives Verhalten. Der Hund, der einen anderen überrollt, meint es ziemlich ernst. Und der, der überrollt wird, hat ohne Intervention seines Besitzers eventuell im weiteren Verlauf ganz schön schlechte Karten.
Alle Hunde hätten ein Anrecht darauf, dass ihre Besitzer ruckzuck einschreiten. Bei den Opfern, um die hochgradig verängstigende Situation unverzüglich zu beenden, damit es nicht zur weiteren Traumatisierung kommt, bei den Tätern, damit diese nicht immer noch weiter in ihrem (teilweise selbstbelohnenden) Verhalten bestätigt und letztendlich unerträgliche Rowdies werden. Ein solches Einschreiten kann sehr einfach sein,: Man geht zwischen die Hunde und nimmt seinen eigenen, also den ängstlichen Hund, kurzerhand aus dem Getümmel raus. Es kann sich aber auch als sehr problematisch darstellen: Eine High-Speed-Verfolgungsjagd wie zwischen einem Husky und einem Terrier ist so gut wie gar nicht zu unterbrechen. In diesem Fall wäre entschlossenes Eingreifen zu einem früheren Zeitpunkt notwendig. Dafür bräuchte es aber die hochkonzentrierte Aufmerksamkeit der Besitzer(innen) aller beteiligten Hunde. Die freie Interaktion mehrerer Hunde ist absolut nicht der richtige Zeitpunkt, um sich die Landschaft anzusehen oder auf seinem Smartphone rumzudaddeln.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch ein Hund muss nicht in Watte gepackt werden. Er darf – besser sogar: sollte! – in freier Interaktion mit Artgenossen auch mal frustriert, gestresst oder in gewissen Grenzen angegangen/zurechtgewiesen werden. Aber nur so weit, wie seine individuellen Bewältigungs-Strategien ausreichen. Ein Hund der völlig überfordert ist und sich absolut nicht mehr zu helfen weiß muss unbedingt geschützt werden. Es ist unsere Aufgabe als Besitzer, die Zeichen richtig zu deuten und punktgenau zu erkennen, wann es für unseren Hund einfach zu viel wird. Das ist rasseabhängig und auch individuell höchst unterschiedlich, weshalb es dafür keine allgemeingültigen Ratschläge geben kann. Wenn Sie sich aufgrund mangelnder Erfahrung unsicher fühlen, ob Sie korrekt erkennen können, ab wann Ihr Hund mit einer Situation nicht mehr alleine klar kommt, müssen Sie sich von einer Fachfrau oder einem Fachmann helfen lassen. Die tun das gerne!
Womit wir bei den Hundeschulen wären. Nach meiner Erfahrung sind die Zeiten (und die gab es durchaus!) von „Die regeln das schon untereinander“ lange vorbei. Viele Trainerinnen und Trainer sind wirklich sehr aufmerksam und intervenieren bei Bedarf sofort. Trotzdem kann man immer noch manchmal beobachten, dass in Welpengarten-Stunden alle Besitzer(innen) um die Trainerin oder den Trainer herumstehen und aufmerksam zuhören, während – völlig unbemerkt – ein Welpe gnadenlos in die Ecke gemobbt wird. Bleiben Sie aufmerksam! Sowas darf speziell in dieser supersensiblen Phase im Leben Ihres Hundes einfach nicht passieren und wäre ein sehr guter Grund, die Hundeschule zu wechseln.
Andersrum wird aber auch ein Schuh draus: Viele frischgebackene Hundebesitzer(innen) sind (so ganz im Innersten) ein wenig stolz, wenn sich ihr Welpe in seiner Gruppe als besonders durchsetzungsstark erweist. Man sieht keinen Grund zum Eingreifen; gibt einem ja irgendwie ein gutes Gefühl – aber in der Regel halt nur bis zur Geschlechtsreife. Dann hat man plötzlich einen unerträglichen Rüpel an der Backe und wundert sich. Eine gute Trainerin, ein guter Trainer wird Ihnen auch das frühzeitig begreiflich zu machen versuchen. Achten Sie darauf, dass bei Welpenstunden keine Interaktionen mit halbwüchsigen Hunden zugelassen werden. Für robuste Welpen mancher Rassegruppen mag es kein großes Problem sein, wenn sie mal schnell von einem Halbstarken ein wenig rumgerollt oder überrannt werden, bei anderen wird aber schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Keim für lebenslange Aversionen gelegt. Eine korrekte Welpengruppe besteht aus maximal sechs Tieren halbwegs gleichen Alters und von halbwegs ausgeglichener Körpergröße. Ein acht Wochen alter Chihuahua kann nicht einfach mit 16wöchigen Welpen von Großrassen oder mit mehreren rabiaten Terriern in dieselbe Gruppe geworfen werden.
Es ist mir natürlich bewusst, dass auch Hundeschulen wirtschaftlich arbeiten müssen, und dass es durch die zahlreichen Konkurrenz-Betriebe oft nicht einfach ist, rentable Welpenkurse nach diesen Maßgaben zusammen zu stellen, aber das kann andererseits nicht Ihre Sorge als Welpenbesitzer sein, denn Sie allein müssen es ausbaden, wenn schon so früh etwas entscheidend schief geht, weil alters-, rasse- oder größenbedingte Unterschiede nicht berücksichtigt wurden.
Also: Halten Sie sich NICHT raus! Greifen Sie ein, und zwar sowohl, wenn Ihr Hund das Opfer ist, als auch, wenn er sich zum Täter entwickelt. Ihr Hund schaut zu Ihnen auf und vertraut Ihnen in allen Dingen. Dieses Vertrauen können Sie grausam und nachhaltig enttäuschen, wenn Sie nicht dazu bereit sind, Ihren Hund vor jeglichen Schäden zu schützen, auch und gerade durch Artgenossen. Die meisten Besitzer(innen) würden hochgradig aggressiv reagieren, wenn ein Fremder nach ihrem Hund treten oder schlagen würde. Das ist okay, aber es macht dann eben auch keinen Sinn, locker daneben zu stehen, während derselbe Hund gerade von einem Artgenossen untergepflügt wird. Und sollte es Ihr Hund sein, der sich gerade im Unterpflügen eines anderen übt, dann wischen Sie mal schnell das stolze Grinsen aus dem Gesicht und gehen Sie dazwischen.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert, Tierarzt